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Ausgabe 03/02
Toben macht schlau

Die Sportnation bleibt sitzen: Die motorischen Fähigkeiten deutscher Kinder haben sich drastisch verschlechtert. Plädoyer für einen neuen Spielplan von Renate Zimmer

Der Körper hat Hochkonjunktur: Ob in der Volkshochschule, im Sportverein oder im Wellness-Center, überall hat die Bewegung Einzug gehalten in Kursangebote und Tagesabläufe, sogar in das Leben jener, für die ein Fitnessstudio vor kurzem noch ein zu meidender Ort des Körperkultes gewesen ist. Ein Volk der Walker und Jogger sind wir geworden, der Stepper und Trimmer - wenn da nur nicht die Kinder wären.

Gern glauben wir, es seien nur Vorurteile: dass Kinder in erster Linie sitzen, anstatt sich zu bewegen. Dass sie sogar jetzt, im Frühling, ihre Tage lieber daheim verbringen. Dass die Welt ins Haus kommt und Kinder nicht mehr die Notwendigkeit kennen, sich zu ihr zu begeben. Dass Hausarrest früher eine harte Strafe war, heute aber ein Begriff, den Kinder kaum noch kennen, geschweige denn fürchten.

Die Wahrheit ist, dass sich die motorischen Leistungen der Kinder in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlechtert haben, zum Teil drastisch. Grundlegende Fertigkeiten sind heute nicht mehr selbstverständlich: einen Ball auffangen. Eine Treppe schnell hinaufsteigen und wieder hinunterspringen. Auf einer schmalen Mauer balancieren. Auf einen Baum klettern. Auf unebenem Untergrund das Gleichgewicht halten. Auch haben viele Kinder Probleme, sich im Raum zu orientieren, wenn sie in einer Gruppe durcheinander laufen. Diese Eindrücke untermauert der »Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder«. Der so genannte MOT 4-6 ist ein Messverfahren, standardisiert wie ein Intelligenztest, mit dem in Kinderarztpraxen und Schuleingangsuntersuchungen häufig die motorische Entwicklung erfasst wird. Der Test enthält Bewegungsaufgaben zum Gleichgewicht, zur Koordinationsfähigkeit, zur Raumorientierung, zur Geschicklichkeit. Er wurde vor 15 Jahren normiert - heute schon liegen die Leistungen in den geprüften Bereichen um etwa zehn Prozent unter den ersten Werten.

Selbstständigkeit kommt von »selber stehen können«. Ein Grund dafür mag sein, dass Lernen in unserer Gesellschaft untrennbar mit Sitzen verbunden ist; Konzentration scheint von körperlicher Unbeweglichkeit abzuhängen. Nach dieser Vorstellung funktioniert Schule. War früher aber zumindest der Nachmittag von bewegungsreichem Spiel gekennzeichnet, geradezu von einer Flucht vom Mittagstisch nach draußen, wird heute oft zur Entspannung der Fernseher eingeschaltet, danach geht es an den Computer, und dann müssen auch noch die Hausaufgaben erledigt werden. Alles im Sitzen! Dem Sitzen am Vormittag folgt also das Sitzen am Nachmittag, die Sinne werden aufs Sehen und Hören beschränkt, der Körper wird stillgelegt und seiner grundlegendsten Funktion beraubt: der Bewegung. Die Bewegung ist ein Kindern ureigenes Bedürfnis, sie ist jedoch in Gefahr, von den Errungenschaften wie von den schädlichen Folgen der Technisierung, der Motorisierung verdrängt zu werden; ebenso vom medialen Angebot.

Die Folgen lassen nicht auf sich warten: Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden, bei Kindern mit ernsthaften Folgen für die körperliche, aber auch für die geistige, emotionale und soziale Entwicklung. So hat sich die Zahl der übergewichtigen Schulanfänger in den jüngsten zehn Jahren verdoppelt. Jedes fünfte Kind ist heute übergewichtig. Diese Befunde wurden erst im März wieder auf der Tagung für Kinder- und Jugendmedizin in Weimar diskutiert. Dort warnten Kinderärzte, dass Übergewicht nicht nur ein Zuviel an Gewicht bedeute, sondern auch ein Zuwenig an Selbstwertgefühl: Die Kinder möchten ihren Körper nicht zeigen, täuschen aus Angst vor dem Schulsport Unpässlichkeiten vor und finden sich schnell in einem Teufelskreis wieder: Der Angst vor Misserfolg folgen das Vermeiden von Bewegung und immer größere körperliche Probleme. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar, wächst doch erstmals eine Generation heran, die in der sensibelsten Zeit des Wachstums einen wesentlichen Faktor gesunder Entwicklung vernachlässigt - und damit auch nicht die körperliche Basis schafft, von der der Mensch eigentlich ein ganzes Leben zehrt.

Bewegungseinschränkung beginnt nicht erst im Schulalter: Viele Babys verbringen einen beachtlichen Teil ihrer wachen Zeit in Sitzschalen, im sogenannten Babysafe werden sie vom ersten Lebenstag an transportiert, aufbewahrt, abgestellt. Das schlechte Gewissen der Eltern scheint manchmal weniger ausgeprägt zu sein als beim Gebrauch des Laufstalls, der früher Inbegriff der Bewegungseinschränkung war. Dabei ist der Laufstall, verglichen mit einer Sitzschale, fast ein Paradies: Hier kann das Kind immerhin noch robben, krabbeln, sich drehen und an den Holzstäben aufrichten, es kann den Boden ertasten, Spielzeug durch die Stäbe stecken und wieder hereinzukriegen versuchen. Im Babysafe hingegen steht - das ist vielleicht ein Zeichen der Zeit - die Sicherheit an erster Stelle. Mit Sicherheit auch die Einengung der Erfahrungen, es gibt keine Chance zu entweichen. Angeschnallt können die Kinder kein Empfinden für die Schwerkraft entwickeln und ihr Gleichgewicht nicht auf die Probe stellen. Die Sinne stumpfen ab, wenn sie nicht gebraucht und benutzt werden.

Ein Beispiel hierfür ist auch der Umgang mit den Füßen: Babys betasten sie, spielen mit ihnen, stecken sie in den Mund. Spätestens im Kleinkindalter aber setzt dann die Entfremdung ein: In Schuhe gezwängt, wird den Füßen der sinnlich wahrnehmbare Kontakt mit der Erde verweigert. So kommt es, dass Barfuss laufen auf einer Wiese mittlerweile verunsichert, es kitzelt und pikst - sogar am Strand sieht man inzwischen viele Kinder, die nur noch mit Gummisandalen im Sand spielen oder ins Wasser gehen.

Dieser Verzicht auf Sinneswahrnehmungen hat einen realen Verlust zur Folge:

Bei der Geburt verfügt der Mensch über mehr als einhundert Milliarden Nervenzellen, die jedoch erst dann funktionsfähig sind, wenn sie miteinander verknüpft werden konnten. In der frühen Kindheit werden durch Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität Reize geschaffen - Reize, die diese Verknüpfungen, die Synapsenbildungen, unterstützen. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden komplexer, je mehr Reize durch die Sinnesorgane zum Gehirn gelangen.

So haben Hirnforscher herausgefunden, dass sich Säuglinge, die in ihrem ersten Lebensjahr vorwiegend in der Wiege lagen, auffallend langsamer entwickeln als Kinder mit mehr Freiheiten. Einige dieser Wiegenkinder konnten im Alter von 21 Monaten noch nicht sitzen, einige sogar mit drei Jahren nicht richtig laufen. In den USA gibt es mittlerweile Intelligenzschulen für Babys und Kleinkinder. Hier stehen Krabbeln, Kriechen auf instabilem Untergrund, Klettern und Schaukeln auf dem Programm, um geistige Kompetenz zu entwickeln.

Doch nicht nur die geistige Entwicklung wird durch Bewegung beeinflusst: Über die Erfahrungen, die das Kind mit seinem Körper gewinnt, entwickelt es ein

Bild von den eigenen Fähigkeiten. Das Kind macht erstmals die Erfahrung von

Können und Nichtkönnen, von Erfolg und Misserfolg, von seiner Leistungsfähigkeit und seinen Grenzen. Kinder erleben zuerst durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können. Im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am deutlichsten in Bewegungshandlungen: Sich allein anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf Mauern klettern - dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern) schrittweise zunehmende Unabhängigkeit beweisen. Das Wort Selbstständigkeit speist sich nicht zufällig aus »selber stehen können«.

Das Beispiel Hessen zeigt: Mehr Sport, mehr Gymnasiasten. Deshalb sollten Bewegen und Lernen auch in der Schule nicht als Gegensatz betrachtet werden. Dort ist der Sportunterricht zwar das einzige Körperfach neben vielen Kopffächern, dennoch wird ihm nicht die Bedeutung beigemessen, die er angesichts seines Einflusses auf die Entwicklung haben müsste. Denn er böte Ausgleich zum stundenlangen Sitzen, ob am Computer oder im Klassenzimmer. In jenen Situationen nämlich werden viele Informationen aufgenommen, ist schnelle Reaktion gefordert. Die dabei produzierten Hormone bewirken einen verstärkten Bewegungsdrang, nach jeder Stunde am Computer sollte deshalb eigentlich eine Stunde Fußball folgen und zumindest nach jeder Klassenarbeit eine Runde Rennen auf dem Schulhof. Doch das stört den Schulbetrieb, scheint verlorene Zeit zu sein, die für die anderen Schulfächer dringend gebraucht wird - auch wenn wegen der Unruhe der Kinder nach einer Klassenarbeit meist kein normaler Unterricht mehr möglich ist. Eine Grundschule in Hessen hat deshalb schon in den neunziger Jahren die tägliche Sportstunde für alle Schüler zur Pflicht gemacht - auf Kosten anderer Fächer und unter anfänglichem Protest vieler Lehrer. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet, die Konsequenzen verblüfften das Kollegium: Wie die Raufereien auf dem Schulhof gingen auch Unfälle und Verletzungen deutlich zurück, Übergewichtige machten rasante Fortschritte, auch in Sachen Integration, die Konzentrationsfähigkeit der Kinder im Unterricht nahm zu - bis hin zu der Tatsache, dass die Lehrer nach eigenen Aussagen jetzt etwa 15 Prozent mehr Schüler fürs Gymnasium empfehlen können.

Ein Beispiel dafür, wie in unserer Gesellschaft die Entwicklungsbedingungen für Kinder verbessert werden können. Dabei hängt vieles auch von der Initiative der Eltern ab: Die Gruppen der Kinder, die sich immer weniger, und derer, die sich immer mehr bewegen, werden immer größer. So wächst zwangsläufig auch die Kluft zwischen den sportlich schon früh von ihren Eltern unterstützten Kindern, die in Sportvereinen und privaten Instituten ihre Talente entfalten können, und jenen Kindern, die aufgrund ungünstiger Lebensbedingungen oder mangelnder Motivation immer weniger gefordert und gefördert werden.

Dabei ist Bewegung nicht in erster Linie eine Frage des Wohnortes oder der Finanzen - ein Besuch in einem Freizeitpark zum Beispiel ist teuer, hat aber nichts mit selbstgesteuerter Bewegung zu tun. Es bedarf auch keiner Fitness-

und Trainingsprogramme, Erwachsene müssen vielmehr den Wert der Bewegung wieder erkennen und die Notwendigkeit, sie gerade im Alltag zuzulassen. Das heißt zum Beispiel, das Kinderzimmer nicht mit elektronischem Spielzeug oder monofunktionellen Möbelstücken zu überfrachten, sondern Raum für Bewegung zu lassen. Mit Matratzen- oder Schaumstoffteilen können Kinder herrliche Bewegungslandschaften bauen, können klettern, springen, rollen, sich verstecken.

Die freie Natur ist der beste Spielplatz. Zuallererst sind also die Eltern gefragt - auch, mit ihren Kindern wieder hinauszugehen und zu spielen, in der freien Natur mit all ihren Herausforderungen. Da reicht es, im Wald nur wenige Meter vom Weg abzuweichen. Was gibt es da nicht alles: weichen Laubboden, beinstellende Wurzeln, gefällte Bäume zum Balancieren! Genügend Herausforderungen, die Kultur des Körpers zu fördern und so primäre, unmittelbare Lernerfahrungen zu machen, die mehr sind als »nur« Sport: dass Üben den Erfolg näher bringt. Dass man selbst verantwortlich ist für das Ergebnis seines Tuns. Und dass Anstrengung die Leistung verbessert.

*Dr. Renate Zimmer ist Professorin für Sportpädagogik an der Universität

Osnabrück und Autorin eines Motoriktests für vier- bis sechsjährige Kinder

(»MOT 4-6«, gemeinsam mit Meinhart Volkamer). Zimmer arbeitet selbst

regelmäßig mit Kindern und ist in der Erzieher- und Lehrerfortbildung tätig.

Sie ist Autorin zahlreicher Bücher zum Thema Bewegung und Entwicklungs-

förderung von Kindern. Zuletzt erschien als Ratgeber für Eltern: »Schafft die

Stühle ab! - Was Kinder durch Bewegung lernen« (Herder Spektrum).

Aus DIE ZEIT - Leben 15/2002

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2002 - 2018 Susanne Fischer