|  | Wasserbaby-Post  [zurück] Ausgabe 03/02 Die Eisbabies aus St. Petersburg - Moskau
 "Du steigst aus dem Wasser und denkst, du kannst fliegen. Dein Körper 
        brennt auf angenehme Weise. Wenn die Luft kälter wird als minus 15 
        Grad, gehen wir nicht mehr ins Wasser. Da ist die Gefahr von Erfrierungen 
        zu groß." Jeden Wintersonntag trifft sich eine Clique von Frauen an einem zugefrorenen 
        See in Sankt Petersburg zum Eisbaden - sie nennt sich "Hallo-Club". 
        Die meisten haben kleine Kinder dabei, einige sind sichtbar schwanger. 
        Auch ihre Männer und Freunde dürfen mitmachen, und im Prinzip 
        weiß man ja von dieser kuriosen Sitte in Russland und Skandinavien; 
        man kennt die saisonal wiederkehrenden Bilder von Menschen, die vergnügt 
        zwischen Eisschollen schwimmen oder sich mit Badehose im Schnee wälzen. 
        Meistens sind es dicke ältere Männer. Walrossartig. Aber junge 
        Frauen im Bikini? Fröhliche Mütter mit Babys, die ihre nackten 
        Würmchen die gleichen Kälteschocks zumuten wie sich selbst? 
        Darf das wahr, kann das gut sein? Eine hübsche Dunkelhaarige im gepunkteten Badeanzug tritt aus dem 
        unverputzten kleinen Ziegelgebäude am Seeufer und steigt mit ihren 
        Badeschlappen in den Schnee. Im linken Arm hält sie ein molliges 
        Baby an der rechten Hand führt sie ein kleines Mädchen. Das 
        ist Anna Smirnova, 28, Hausfrau in Sankt Petersburg, mit ihren Töchtern 
        Nastya, vier Jahre, und Nika, zehn Monate alt. Nastya trägt ein geblümtes 
        Unterhöschen, Nika nichts als ihre rosige Haut. Nastya plappert aufgeregt 
        zur Mama hinauf, Nika schaut zufrieden in die Gegend. Die Sonne scheint, 
        die kahlen Birken am Ufer werfen filigrane Schatten in den Schnee. Ein 
        Thermometer an der Hauswand zeigt minus zehn Grad. Mehr Frauen im Badedress 
        kommen aus dem Gebäude, teils mit, teils ohne Kinder. Sie haben drinnen 
        ihre Schichten von Winterkleidern abgelegt und sich in der Dampfsauna 
        erst einmal aufgeheizt - jetzt sind sie so weit. Der Spaß beginnt. 
        Mit einer erfrischenden Dusche.  Wenige Meter vom Ufer entfernt ist ins dicke Eis des Sees ein Loch geschlagen, 
        etwa so groß wie ein Esstisch. Schwarz gluckst das Wasser darin, 
        sehr einladend, vermutlich für Robben.  Eine junge Frau im dunkelblauen Zweiteiler taucht eine große Blechschüssel 
        ins Wasserloch - und schwapp! Mit Schwung platscht der eiskalte Guss über 
        Mütter und Kinder. Gleich noch einer und noch einer, schon vom Zuschauen 
        bleibt einem die Luft weg. Die Frauen prusten und lachen, die größeren 
        Kinder suchen unwillkürlich Deckung hinterm mütterlichen Körper, 
        Babys winden sich in den sie haltenden Armen. Aber schon ist das vorbei. Jetzt zieht Nastya, die Vierjährige, ihre Mama zum Rand des Wasserlochs. 
        Dort ist ein Pfosten in den seichten Seegrund getrieben. Anna Smirnova 
        setzt sich daneben aufs Eis, hängt die Füße ins Wasser 
        und gleitet, Baby Nika fest im Arm, hinein. Das Wasser reicht ihr bis 
        zur Taille. Anna hält die Luft an und taucht komplett unter samt 
        ihrem Baby. Für ein zwei Sekunden. Draußen zappelt Nastya: 
        Sie will auch! Ihre Mutter, wieder aufgetaucht, hält ihr die freie 
        Hand hin - und Nastya springt. Freiwillig. Zu Mama und dem nackten Schwesterchen 
        ins schwarze, eisige Nass.  Und dann aber nichts wie raus. Das Bad hat für sie alle an die dreizehn, 
        höchstens fünfzehn Sekunden gedauert. Doch das war's noch nicht 
        ganz. Anna Smirnova legt sich in den Schnee, rollt sich um die eigene 
        Achse und macht mit ihrem Baby das Gleiche, während Nastya zu den 
        anderen Kindern rennt, um dieses abschließende Vergnügen mit 
        ihnen zu teilen. Kreischend kugeln sie sich im Schnee.  Alle sind krebsrot inzwischen, die Kleinen und die Großen, die 
        Nackten und die fast Nackten. Alle bibbern, mehr oder weniger vor Kälte, 
        die sich wie Hitze anfühlt, vor Angst, die sich in Stolz verwandelt, 
        vor allgemeiner Erregung. Und jetzt zurück in die Sauna! Schnell, 
        Kinder sonst erkältet ihr euch noch. Ein paar Dinge sind beim Zuschauen schon mal klar geworden, noch bevor 
        man mit den Frauen geredet hat: Das sind liebende Mütter, keine Sadistinnen. 
        Zweitens: Die Sache scheint wirklich Spaß zu machen. Den gleichen 
        Spaß wie alle körperlichen Aktivitäten, die Überwindung 
        von Angst (oder Faulheit) erfordern und mit Lustgefühlen belohnen. 
        Drittens: Alles geht sehr schnell. Aus der Hitze kurz raus in die Kälte 
        und sofort zurück ins Warme. Schließlich: Die Babys und Kleinkinder 
        überstehen das gut. Ein erschrecktes Wimmern vielleicht beim Schock 
        durch Eiswasser oder Schnee, aber schon sind sie wieder, eng am Körper 
        von Mama oder Papa, sicher und geborgen. Keinerlei Dauergebrüll hier, 
        das echte Kinderqualen signalisieren würde.  Anna Smirnova war mit ihrer süßen, quirligen Nastya im achten 
        Monat schwanger, als sie im "Hallo-Club" zum ersten Mal im zugefrorenen 
        See untertauchte: Im achten Monat! Wie kam sie auf die Idee?  "Ich hatte von dieser Gynäkologin gehört, die das empfiehlt, 
        Elena Pristavko. Das ist die Leiterin vom Club. Ich hab erst nur zugeschaut, 
        dann hab ich mich ausgezogen und bin rein. Es war wunderbar - vor allem, 
        wieder rauszukommen. Da fühlte ich mich schwerelos, ich dachte, jetzt 
        kannst du fliegen." Nur fünf Wochen nach der Geburt nahm Anna 
        ihre Nastya mit ins gefrierende Wasser und Nika, die Zweitgeborene, war 
        sogar schon im Alter von zwei Wochen dran. "Nika", lacht die 
        Mutter und drückt ihr Baby an die Brust, "Nika ging damals vor 
        Schreck gleich der Geburtsschorf am Bauchnabel ab."  Was die Frauenärztin absolut in Ordnung findet. Doktor Elena Pristavko 
        ist eine ziemlich runde Frau von 46 Jahren, selbst fünffache Mutter, 
        berufstätig, trotzdem freundlich und voller Energie. Sie sagt, Baden 
        im Eis habe ihr Leben "revolutioniert".  Elena war kränklich, bis sie 30 war. Wie alle Russen kannte sie 
        Eisschwimmen - kombiniert mit Saunagängen - als Teil der heimischen 
        Volkskultur. Sie las medizinische Fachliteratur darüber und probierte 
        es aus. Den positiven gesundheitlichen Effekt spürte sie sofort, 
        sie war von da an kaum noch krank. "Das kalte Wasser stimuliert die 
        Blutzirkulation und revitalisiert deine Hautrezeptoren. Deine Hypophyse 
        wird aktiviert und schüttet einen ganzen Stoß von Hormonen 
        aus." Spricht die Medizinerin. Aber mehr als das: "Wie fast 
        jeder habe ich das Gefühl, ich könnte fliegen, wenn ich aus 
        dem Wasser steige. Du meinst wirklich, dein Körper brennt auf angenehme 
        Weise." Aber die Babys, die Kleinen, die nicht sagen können, was sie empfinden? 
        "Es ist ja nicht so", erklärt die Ärztin, "dass 
        wir ein - sagen wir - zweijähriges Kind unvorbereitet einfach ins 
        Eiswasser werfen. Gesunde Erwachsene können jederzeit mit Eisbaden 
        anfangen, aber Kinder muss man dran gewöhnen, am besten schon in 
        der Schwangerschaft oder bald nach der Geburt. Alle unsere Kinder die 
        hier kurz ins Eisloch tauchen, kriegen zu Hause das ganze Jahr über 
        morgens kalte Güsse über den Kopf. Das macht sie gesund und 
        robust.  Noch nie hat es hier am See irgendwelche medizinischen Probleme gegeben. 
        Da passen wir schon gut auf, gehen zum Beispiel nicht raus, wenn's kälter 
        ist als minus 15° Grad, da wird die Gefahr von Erfrierungen zu groß." Die Gynäkologin Elena Pristavko versteht ihren lockeren "Hallo-Club", 
        zu dem insgesamt etwa 100 Frauen mit Anhang gehören, auch als gesundheitspolitisches 
        Statement. Geburt und Kindererziehung sind in Russland teilweise noch 
        von altertümlichen Vorstellungen geprägt. Werdende Mütter 
        müssen oft schon zwei Wochen vor dem Termin in der Klinik einrücken 
        und werden dort behandelt wie am Fließband. Väter haben keinen 
        Zutritt. Kleinkinder häufig in der Obhut der Großmütter 
        werden in chronisch überheizten russischen Wohnblocks viel zu warm 
        angezogen und verzärtelt.  "Klar dass neue Ideen wie unser Club hier vom medizinischen Establishment 
        nicht gerade begrüßt werden", sagt Elena. Macht aber nichts. 
        Sie schreibt jetzt ein Buch über den "Hallo Club", über 
        die Schwangeren, die Mütter, die Babys und das Eis. Im Ziegelbau am Seeufer dampft es unterdessen saunamäßig um 
        fröhliche nackte Frauen und Kinder. Draußen stehen ein paar 
        dazugehörige Männer barfuss im Schnee, ein bisschen machohaft 
        nach ihrem Eisbad, in der Badehose. Dem einen oder anderen sieht man's 
        an, worauf er jetzt Lust hat. [zurück] |